Operieren trotz Schlaganfall?

Für die Ärzteschaft gibt es ein wegweisendes neues Urteil: Sind Arzt oder Ärztin gesundheitlich beeinträchtigt, müssen sie das vor einer Operation den Patienten mitteilen, sonst machen sie sich strafbar. Verständlich, aber in der Praxis wirft das Fragen auf.


Ein Arzt ist zur Aufklärung über alle Umstände verpflichtet, die den Verlauf einer Operation beeinflussen könnten. Dazu zählt nach Ansicht des Bayerischen Obersten Landesgerichts (BayObLG) auch die Aufklärung über Einschränkungen seiner motorischen Fähigkeiten – zum Beispiel durch eigene Vorerkrankungen – gegenüber seinen Patienten. Unterlässt er diese Aufklärung, macht er sich auch dann der vorsätzlichen Körperverletzung strafbar, wenn er die Behandlung sachgerecht ausführt. Dies entschied jüngst das BayObLG mit Urteil vom 29.06.2021 (205 StRR 141/21).


ZWEI PATIENTINNEN ERBLINDETEN
Der Angeklagte betrieb als approbierter Augenarzt in den Jahren 2011 bis 2015 in Kempten eine Augenarztpraxis, in der er auch Kataraktoperationen (Operation des Grauen Stars) durchführte. 2009 hatte der Arzt einen Schlaganfall mit Gehirnblutung und einem epileptischen Anfall erlitten – mit schweren körperlichen Folgen: Er verlor sein Sprechvermögen und das Sprachverständnis, die rechte Körperseite war durch eine unvollständige Lähmung beeinträchtigt, die rechte Hand motorisch eingeschränkt. Der Augenarzt unterzog sich den notwendigen Rehabilitationsmaßnahmen, die zu Fortschritten sowohl bezüglich ­seiner Sprachstörungen als auch der Koordination seiner Finger- und Handfunktionen führten. Ab 2011 operierte er Tausende Patienten an den Augen. Vor den OPs klärte der Angeklagte die Patienten zwar über sämtliche Operationsrisiken auf, jedoch nicht über seinen Schlaganfall. Bei einigen kam es zu Komplikationen, zwei Patientinnen verloren jeweils auf einem Auge ihr Augenlicht. Es wurde ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet und Anklage erhoben. Das Amtsgericht Kempten 2019 verurteilte ihn zunächst wegen schwerer Körperverletzungen in zwei und der vorsätzlichen Körperverletzung in sieben weiteren Fällen zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren. In der Berufungsverhandlung wertete das Landgericht Kempten sein Verhalten nur noch als fahrlässige Körperverletzung. Dabei ging die Berufungskammer zugunsten des Angeklagten davon aus, dass er die Notwendigkeit einer Aufklärung über seinen Gesundheitszustand fahrlässig verkannt habe. Das Berufungsurteil hob das BayObLG nun auf und verwies das Verfahren nach Kempten zurück. Es sprächen gewichtige Indizien dafür, dass der Augenarzt die Körperverletzungshandlungen nicht nur fahrlässig, sondern vielmehr vorsätzlich begangen habe, weil ihm seine körperlichen Beeinträchtigungen bekannt gewesen seien.


Der Senat begründet sein Urteil damit, dass keine wirksame Einwilligung der Geschädigten in die Operationen vorgelegen habe. Für eine solche rechtswirksame Einwilligung sei eine Aufklärung erforderlich, die dem Patienten Wesen, Bedeutung und Tragweite des Eingriffs und seiner Gestaltung in den Grundzügen erkennen lasse und ihn in die Lage versetze, das Für und Wider des Eingriffs abschätzen zu können. Danach habe ein Arzt seine Patienten über alle Umstände aufzuklären, die aus der Sicht eines verständigen, nicht übertrieben ängstlichen Patienten wesentlich sind, damit dieser die Risiken einer OP abschätzen könne. Dazu zähle auch die Aufklärung über Einschränkungen seiner motorischen Fähigkeiten. Dabei entbinde das Vorliegen einer Approbation – die dem Angeklagten im Jahr 2012 nach einer amtsärztlichen Untersuchung durch die Approbationsbehörde explizit nicht entzogen wurde – einen Arzt nicht von der Pflicht, kritisch zu prüfen, ob er über die erforderliche Eignung für eine Heilbehandlungsmaßnahme verfüge. Dies gelte insbesondere für Heilbehandlungsmaßnahmen, die mit erheblichen Risiken verbunden seien.


OFFENE FORMULIERUNG
Die Entscheidung ist von wesentlicher Bedeutung für die Dogmatik des Medizinstrafrechts und die alltägliche Praxis von Medizinern und Medizinerinnen. Dadurch wird der umfangreiche Katalog an Aufklärungspflichten um einen weiteren Bereich erweitert, der so bislang vom Gericht nicht behandelt wurde. Dies verpflichtet die Angehörigen von Heilberufen, im Einzelfall auch über höchstpersönliche Belange Auskunft zu erteilen, sofern diese Einfluss auf die Behandlung haben könnten. Die recht offene Formulierung der „für einen verständigen, nicht übertrieben ängstlichen Patienten wesentlicher Umstände für die Abschätzung der Risiken einer Operation“ führt jedoch zu deutlichen Unsicherheiten. Wo liegen die Grenzen? Besteht beispielsweise auch eine Aufklärungspflicht, wenn eine Krankenhausärztin durch Überarbeitung und/oder mehrstündiger vorausgegangener anderweitiger Operation nicht mehr voll aufnahmefähig ist? Zu hoffen bleibt, dass eine Eingrenzung und Konkretisierung erfolgen wird. Selbst, wenn eine Erkrankung nicht ausreichend beeinträchtigend für einen Approbationsentzug ist, so stellt sich dennoch die Frage, wie viele Patienten noch in eine Operation mit einem relevant vorerkrankten Arzt überhaupt einwilligen werden. Für den Arzt kann eine Erkrankung generell zu einer schwierigen und sehr prekären Situation führen.

RA Michael Lennartz

www.lennmed.de

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