BGH verwirft „taggenaue Berechnung” beim Schmerzensgeld

Klarheit über die Methode der „taggenauen Berechnung“ bei der Feststellung des Schmerzensgeldes hat der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) mit seinem Urteil vom 15.2.2022 (Az. VI ZR 937/20) geschaffen. Es hat auch Relevanz für zahnärztliche Haftungsfälle und für die Haftungshöhe. Diese Methode wurde von einigen Oberlandesgerichten angewendet.

Es ging um einen Kläger, der bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt wurde. Es folgten 13 stationäre Aufenthalte mit insgesamt 500 Tagen im Krankenhaus. Seitdem ist der Kläger um mindestens 60 Prozent in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert. Die Einstandspflicht des Beklagten ist unstreitig. Streitig war dagegen die konkrete Schadenshöhe.


Das Landgericht hatte dem Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 100.000 Euro zugesprochen. In der Berufung hatte das Oberlandesgericht unter Zuhilfenahme der „taggenauen Berechnungsmethode“ ein Schmerzensgeld in Höhe von 200.000 Euro festgestellt.


„TAGGENAUE BERECHNUNGSMETHODE“
Bei dieser Methode wird in einem ersten Schritt eine Addition der Tagessätze vorgenommen, die nach der Behandlungsphase (beispielsweise Intensiv­station, Normalstation, stationäre Reha-Maßnahme, ambulante Behandlung zuhause, Dauerschaden) und der damit einhergehenden Lebensbeeinträchtigung gestaffelt sind.
In einem zweiten Schritt können von der zuvor „taggenau“ errechneten Summe je nach Gestaltung und Schwere des Falles individuelle Zu- und Ab­­schläge vorgenommen werden.


Zuletzt kann dann in einem dritten Schritt abschließend eine Erhöhung des Schmerzensgeldes bei Dauerschäden und besonders schwerwiegenden Verfehlungen des Schädigers vorgenommen werden.


ENTSCHEIDUNG DES BGH
Der VI. Zivilsenat hat die Entscheidung des Berufungsgerichts aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen: „Maßgebend für die Höhe des Schmerzensgeldes sind im Wesentlichen die Schwere der Verletzungen, das durch diese bedingte Leiden, dessen Dauer, das Ausmaß der Wahrnehmung der Beeinträchtigung durch den Verletzten und der Grad des Verschuldens des Schädigers. Dabei geht es nicht um eine isolierte Schau auf einzelne Umstände des Falles, sondern um eine Gesamtbetrachtung aller Um­­stände des Einzelfalls. Dabei ist in erster Linie die Höhe und das Maß der entstandenen Lebensbeeinträchtigung zu berücksichtigen. Auf der Grundlage dieser Gesamtbetrachtung ist eine einheitliche Entschädigung für das sich insgesamt darbietende Schadensbild festzusetzen, die sich jedoch nicht streng rechnerisch ermitteln lässt.“


Diese Grundsätze sieht der Senat in der vom Berufungsgericht vorgenommenen „taggenauen Berechnung“ des Schmerzensgeldes nicht mehr sichergestellt: „Die schematische Konzentration auf die Anzahl der Tage, die der Kläger auf der Normalstation eines Krankenhauses verbracht hat und die er nach seiner Lebenserwartung mit der dauerhaften Einschränkung voraussichtlich noch wird leben müssen, lässt wesentliche Umstände des konkreten Falles außer Acht. So bleibt unbeachtet, welche Verletzungen der Kläger erlitten hat, wie die Verletzungen behandelt wurden und welches individuelle Leid bei ihm aus­gelöst wurde. Gleiches gilt für die Einschränkungen in seiner zukünftigen individuellen Lebensführung. Auch die Anknüpfung an die statistische Größe des durchschnittlichen Einkommens trägt der notwendigen Orientierung an der gerade individuell zu ermittelnden Lebensbeeinträchtigung des Geschädigten nicht hinreichend Rechnung.“


Der Versuch einer schematischen Herangehensweise an die Berechnung eines angemessenen Schmerzensgeldes ist damit gescheitert. Es bleibt abzuwarten, ob und wie sich die Rechtsprechung des BGH bei den Gerichten bei der Berechnung des Schmerzensgelds auswirken wird.

 

RA Michael Lennartz

www.lennmed.de

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