Im Abwägen von Chancen und Risiken

EHDS. Im Trilog der EU-Institutionen – Kommission, Parlament und Rat – wurde im März eine vorläufige
Einigung erzielt, welche die Umsetzung hin zu einem Europäischen Gesundheitsdatenraum (European Health
Data Space – EHDS) noch in dieser EU-Legislatur ermöglichen soll.

AUTOR: DR. KAI-PETER ZIMMERMANN, FVDZ-DIGITALVORSTAND

Der EHDS ist zwar nur einer, aber vermutlich der prominenteste Vertreter verschiedener Datenräume, welche die EU etablieren möchte. Vor etlichen Jahren bereits skizziert, soll der EHDS eine leichtere Verfügbarkeit medizinischer Daten und Dokumente fördern und somit grenzüberschreitende Gesundheitsdienstleistungen im europäischen Binnenmarkt. Im Vordergrund, so schien es, standen zu Beginn vor allem die elektronische Verfügbarkeit von Röntgenunterlagen und Diagnosen sowie die Möglichkeit einer grenzüberschreitenden
Einlösung von Medikamentenverordnungen. Ziele waren somit vor allem der Abbau von Hürden zwischen einzelnen nationalen Gesundheitswesen und die Digitalisierung medizinischer Dokumente. Diese Ziele waren eingebettet in das Dienstleistungspaket der EU zur Steigerung wirtschaftlicher Aktivitäten im europäischen Binnenmarkt.

Der Freie Verband Deutscher Zahnärzte (FVDZ) hat sich schon früh an Konsultationen der EU-Kommission beteiligt und Kernforderungen der Zahnärzteschaft angesichts politischer Digitalisierungsvorhaben adressiert: Freiwilligkeit, Datensicherheit und -hoheit der Beteiligten, Rechtssicherheit und Erstattung von Praxisausgaben für gesamtgesellschaftliche Projekte sind unsere Hauptanliegen.

EU ändert ihr Wording

Im Laufe der Zeit hat sich die Kommunikation der EU zum EHDS peu à peu verändert. Anders als zu Beginn ist heute weniger von der Erbringung grenzüberschreitender Gesundheitsdienstleistungen die Rede, umso mehr von der Verfügbarkeit von Gesundheitsdaten. Insbesondere die Sekundärdatennutzung nimmt in den Statements immer mehr Raum ein – und damit die Schaffung enormer Datensammlungen, die Wissenschaft und Industrie zur Verfügung gestellt werden sollen, um die EU-Forschung zu stärken. Zumindest in ihrem Wording ist die EU somit deutlich vom ursprünglich skizzierten Weg der Vereinfachungen für Bürger und Mediziner abgekommen, wenn sie denn diesen Weg jemals beschreiten wollte. Genau wie in der Debatte in Deutschland um die elektronische Patientenakte (ePA) wurde auch in den Gesprächen auf europäischer Ebene über die elektronische Gesundheitsakte („electronic health record“ – EHR) die Widerspruchsregelung (Opt-out) ausgiebig diskutiert. Vor allem Vertreter der forschenden Industrie fordern eine möglichst
breite Datenbasis mit möglichst wenigen Einflussmöglichkeiten der betroffenen Bürgerinnen und Bürger. Grundsätzlich wird beim Opt-out für jeden Bürger eine ePA/EHR angelegt,
der aktiv widersprochen werden muss, wenn keine Aktenbefüllung und -auswertung gewünscht wird; für Deutschland gilt dies von 2025 an.

Nutzen gemäß Risikostufen

Alles andere als leicht gestaltet sich die Abwägung zwischen Datenhoheit und -schutz der Patientinnen und Patienten einerseits und dem Interesse von Wissenschafft und Industrie an möglichst unverfälschten Daten mit breiter Basis andererseits. Dieses Abwägen von Chancen und Risiken spiegelt sich auch im „Gesetz über künstliche Intelligenz“ (AI Act), dem das EU-Parlament Mitte März zugestimmt hat, und das einen risikobasierten Ansatz verfolgt (verbotene KI, KI mit hohem Risiko wie etwa Medizinprodukte, KI mit begrenztem Risiko
und KI mit geringem Risiko). Im Zuge dieser grenzüberschreitenden Digitalisierungsvorhaben wird die Interoperabilität nationaler Systeme und damit ein reibungsloses Zusammenspiel der digitalen Datenräume der Mitgliedstaaten beinahe schon als selbstverständlich vorausgesetzt. In Anbetracht der tagtäglichen Herausforderungen, mit denen wir in Deutschland in unseren Praxen angesichts der Telematikinfrastruktur (TI) zu kämpfen haben, ist es allerdings schwer vorstellbar, wie die Interoperabilität von 27 nationalen Lösungen mittelfristig gelingen soll. Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach hat einmal gesagt, der Rückstand bei der Digitalisierung Deutschlands im internationalen Vergleich sei auch ein Vorteil, da wir uns so allein schon bei der Einführung einzelner digitaler Elemente an europäischen Plänen orientieren könnten. Gleichwohl konterkarierte Lauterbach seine eigene Aussage mit Verabschiedung seiner beiden Digitalisierungsgesetze (Digital-Gesetz und Gesundheitsdatennutzungsgesetz) durch den Bundestag Ende vorigen Jahres, war doch die nationale Einigung auf eine Optout- Variante bei der ePA nicht vereinbar mit den Absichten der EU-Kommission und erschwerte die Kompromisssuche auf europäischer Ebene. So war ursprünglich im Kommissionsvorschlag für die Sekundärnutzung und damit für Forschungszwecke keine Widerspruchsmöglichkeit für den EHDS vorgesehen; jetzt aber gilt die Opt-out-Lösung, sodass nur unter festgelegten Bedingungen Mitgliedstaaten davon in Ausnahmen abweichen können.

Wer stemmt die Kosten?

Ob und wie stark wir als Zahnärztinnen und Zahnärzte im Alltag mit dem EHDS in Berührung kommen werden, wird sich zeigen. An der prinzipiellen Bereitschaft und dem Spaß am digitalen Fortschritt mangelt es unserem Berufsstand sicher nicht. Es bleibt nur zu holen, dass sich die Fehler, die wir im Zusammenhang mit der TI auf nationaler Ebene immer wieder erleben, nicht auf europäischer Ebene wiederholen und die Kollegenschaft in der Praxis nicht die Kosten für ein Datensammlungsvorhaben stemmen muss, von dem die zahnärztliche Versorgung vor Ort kaum oder gar nicht profitiert.


Gibt es Rechtssicherheit?

Auch wenn sich die Zielrichtung der EU beim EHDS geändert zu haben scheint, die Grundforderungen des FVDZ bleiben gleich und unverändert aktuell: Der Datenschutz und die Sicherheit der erhobenen Daten müssen immer oberste Priorität haben. Denn ohne Sicherheit gibt es kein Vertrauen und damit keine Bereitschaft, seine Daten einem Netzwerk
zu überlassen. Dazu gehört die freie Entscheidung aller Beteiligter, also (Zahn-)Medizinerinnen und (Zahn-) Mediziner sowie Patientinnen und Patienten, Gesundheitsdaten für Speicherung und Forschungszwecke weiterzugeben. Da diese Datenhoheit ganz bewusst auch die Löschung beziehungsweise alleinige Freischaltung einzelner Teilbereiche der ePA/EHR beinhaltet, muss es einen sicheren Rechtsrahmen für alle Behandlerinnen und Behandler geben, wenn sie aufgrund unvollständig sichtbarer Vorerkrankungen therapeutische Entscheidungen treffen müssen. Und zu guter Letzt muss klar sein, dass die Etablierung eines europäischen Gesundheitsdatenraums eine politische Entscheidung ist, deren Nutzen im Praxisalltag zumindest für uns Zahnmediziner überschaubar bleiben wird. Kosten, die hierüber in den Praxen entstehen, sind keine unternehmerischen Investitionen.
Deshalb fordert der FVDZ von Anfang an die sichergestellte Erstattung aller Ausgaben und eventueller Praxisausfälle, die im Zusammenhang mit neuen, politisch gewollten Digitalisierungsvorhaben entstehen.