Schritt für Schritt mehr Union
Europawahl. Einst war es die große europäische Idee von Frieden und Freiheit, die die Nationen enger zusammenrücken ließ. Doch nicht alle halten so viel Nähe und Gemeinsamkeit aus. Immer mehr nationale Töne sind zu hören vor dieser Europawahl – nicht nur in Deutschland, sondern überall in Europa. Die EU wird erklärungsbedürftig. Und es wird Zeit, die demokratischen Grundwerte zu schärfen.
Autorin: Sabine Schmitt
Es steht viel auf dem Spiel für die Europäische Union (EU) bei dieser Wahl zum Europäischen Parlament (EP), zu der vom 6. bis 9. Juni 2024 etwa 430 Millionen Wahlberechtigte ihre
Stimme abgeben dürfen. Erfahrungsgemäß wird nur etwa die Hälfte derer, die dürfen, auch tatsächlich wählen. Zu weit weg, zu abgehoben, zu kompliziert, zu bürokratisiert, zu bedeutungslos: Es gibt viele Gründe, warum die Wählerinnen und Wähler nicht warm werden mit der EU. Viele nehmen die Europawahlen als eine Art „nationale Nebenwahl“ wahr, halten den Einfluss Brüssels für begrenzt, viel zu akademisch, viel zu bürgerfern.
RECHTSRUCK ERWARTET
Doch wenn es bei vorangegangenen Wahlen nur darum ging, die EU etwas näher an die Menschen zu bringen, geht es in diesem Jahr um viel mehr. Das Erstarken der rechtspopulistischen und national orientierten Parteien ist nicht nur in Deutschland offenbar. Überall in Europa haben rechte Parteien Zulauf – und überall lassen sich deren Vertreter ins EU Parlament wählen. Nicht, um konstruktiv am Erhalt der Europäischen Idee, an Frieden, Freiheit und einem gemeinsamen Wirtschaftsraum zu arbeiten, sondern ganz im Gegenteil. Da wird mächtig an der Abschaffung des Unionsgedankens gefeilt, an der Aushöhlung von innen. Deshalb, so betonen Politiker wie der Vorsitzende des Europaausschusses im Bundestag, Anton Hofreiter (Grüne), oder Europaauschussmitglied Ralph Brinkhaus (CDU) unisono die Wichtigkeit der Wahl. Dem drohenden Rechtsruck sollten alle EU-Bürgerinnen und -Bürger ein deutliches Signal entgegensetzen. Es sei Zeit, Demokratie und Sozialstaat zu verteidigen, den sozialen Zusammenhalt zu stärken und für die Werte des gemeinsamen europäischen Projekts einzustehen, sagten sie bei einer Veranstaltung der Gesellschafft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung (GVG) in Berlin.
GEMEINSAMKEIT STÄRKEN
Mehr denn je gilt es also, die Gemeinsamkeiten der Europäer zu stärken und durch größtmögliche Offenheit die Freiheit aller zu bewahren. Zu den Herausforderungen, vor denen die EU bei den letzten Wahlen vor fünf Jahren stand, sind zahlreiche neue, gravierende hinzugekommen. Die Pandemie zuerst und kurz darauf der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine haben Europa gelehrt und lehren noch immer, wie wichtig es ist, nicht erst in Krisenzeiten Allianzen zu bilden, sondern auch in „guten Zeiten“ zusammenzustehen und Gemeinsamkeiten zu stärken. Dies gilt auch für den Gesundheitsbereich. Traditionell ist der Gesundheitssektor nationale Angelegenheit der EU-Mitgliedsstaaten – vertraglich festgelegt. Und um eine Harmonisierung der Gesundheitssysteme in Europa geht es auch nicht, denn diese sind viel zu unterschiedlich – auch in ihrer Finanzierung. Und dennoch ist der Einfluss Brüssels im Bereich Gesundheit in den vergangenen Jahren gewachsen – und groß geworden.
KOMMT DIE GESUNDHEITSUNION?
Der Bereich „Gesundheit“ gehört zu den „nicht harmonisierten“ Politikfeldern in der EU – und dennoch hat sich gezeigt und zeigt sich immer mehr, wie groß der Einfluss Brüssels auf die nationalen Gesundheitssysteme geworden ist. Besonders während der COVID-19-Pandemie sind vonseiten der EU eine ganze Reihe Gesetzgebungsverfahren auf den Weg gebracht worden, die zum größten Teil darauf abzielen, in Zukunft grenzüberschreitende Gesundheitsbedrohungen, Antibiotikaresistenzen oder auch Lieferengpässe von Medikamenten besser und vor allem gemeinsam regeln zu können. Auch eine Festlegung auf gemeinsame Mindeststandards der Gesundheitsversorgung werden derzeit diskutiert. Und auch der Europäische Gesundheitsdatenraum (EHDS), der ja bereits in naher Zukunft Wirklichkeit werden soll, ist sicherlich ein Schritt in Richtung Gesundheitsunion. All das mündet in die Überlegung, dem gewachsenen Einfluss Europas Rechnung zu tragen und dem Bereich Gesundheit mit einem eigenen Ausschuss im Parlament den sich herauskristallisierenden Stellenwert zu geben. Immer mehr Abstimmung wird notwendig – und bringt neue Herausforderungen mit sich, wie das Beispiel EHDS zeigt. Schrittweise erfolgt Annäherung. Die Europäerinnen und Europäer haben sich auf den Weg in eine Gesundheitsunion begeben.